Grisper Castle - Blutmondnacht

Kapitel 1 – Eine Sommernacht

Die Nacht war warm, ein sanfter Wind ließ die Blätter der Bäume im Nebelwald leise rascheln. Das Zirpen der Grillen mischte sich in dieses stete Rauschen, durchbrochen nur durch die Rufe einiger weniger Eulen. Über Marek schien der volle Mond und tauchte das dichte Gewirr der Bäume in ein warmes, mystisches Licht.
   Tief sog er die Luft in seine Lunge. Der würzige Duft des Waldes vermischte sich mit dem erdigen des Moores zu einer unverwechselbaren Note.
Er drehte sich auf die Seite und stützte sich auf seinem Ellbogen auf. Seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem sanften Lächeln. Zärtlich strich er mit seinem Finger über Craigs Wangen, der neben ihm auf dem Dach des höchsten Turms von Grisper Castle lag und die Augen geschlossen hatte. Ein wohliges Raunen entfloh seiner Kehle. Marek beugte sich zu ihm und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Craigs Gesicht aus.
   „Ich könnte ewig hier oben bleiben“, flüsterte Marek ihm ins Ohr und legte sich zurück auf die kleine Holzplattform, die er auf das Dach gezaubert hatte. Das ganze Jahr über hatte er das Hexen geübt. Das Teleportieren und das Herbeizaubern von Gegenständen gelang ihm inzwischen, ohne dass er sich noch anstrengen musste, es ging wie von allein.     Marcus hatte vollkommen recht gehabt, es war wie beim Autofahren – nach einer Weile musste man auch nicht mehr darüber nachdenken, ob man bremsen, blinken oder Gas geben musste – man tat es einfach.
   Zusammen mit Bryne war er vor ein paar Wochen auf die Idee gekommen, auf dem höchsten Punkt des Schlossdaches eine kleine Liegefläche zu bauen. Während Marek die Materialien aufs Dach gehext hatte, hatte Bryne den handwerklichen Teil übernommen. Über eine Holzstiege am Dachfenster konnten sie nun alle den Ausguck auf dem Dach erreichen. Er selbst brauchte diesen Umweg inzwischen nicht mehr, konnte er sich und Craig schließlich nach oben teleportieren. Lediglich Kenneth blieb dieser Ausblick verwehrt. Weiter als bis zum Fenster kam der Geist nicht, das Schloss konnte er nicht verlassen. An dieser Tatsache hatten auch sein Gezeter und der Vorwurf der Diskriminierung nichts geändert.
   „Nichts da.“ Craig setzte sich auf und sah zu Marek. „Für später sind Gewitter gemeldet. Wir warten die Perseiden ab und gehen dann wieder runter.“ Sein Blick wanderte zum Mond, der einen zarten Orangeton angenommen hatte. „Er verfärbt sich schon.“ Mit einem wohligen Seufzer legte er sich wieder hin. „Wo ist eigentlich Marcus? Nachdem er seit Wochen von kaum etwas anderem gesprochen hat – sollte er da nicht auch hier oben sein?“
   „Marcus, hier oben?“ Marek hob fragend eine Augenbraue und schmunzelte. „Er wollte nach Darkmoor. Seinen Berechnungen zufolge ist der Sternschnuppenregen von dort aus besser zu sehen.“ Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Ich denke aber, er ist hauptsächlich nicht hier oben, weil er Höhenangst hat.“
   „Marcus?“, fragte Craig erstaunt.
   „Er war erst ein Mal mit auf dem Dach und das war, als wir mit der Plattform fertig waren, da hat er sich am Fensterrahmen festgekrallt, hat nur gemeint ‚tolle Aussicht‘ und ist sofort wieder reingegangen. Aber er würde natürlich niemals zugeben, dass er Angst hat.“
   „Natürlich nicht.“ Craig schüttelte lachend den Kopf und schaute wieder zum Mond hinauf. „Meinst du, es fliegen viele Sternschnuppen am Blutmond vorbei?“
   „Wenn Marcus recht behält, dann ja. Er hat gemeint, durch die spezielle Lichtbrechung werden sie wie ein blauer Streifen quer über dem Mond zu erkennen sein.“
Craig beugte sich zu Marek und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Er fuhr mit seinem Finger über das Hexenmal, zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen. „Spürst du schon etwas? Ich meine, fühlt es sich heute anders an?“
   Marek setzte sich auf, er öffnete einen weiteren Knopf und betrachtete das runde Mal auf seiner Brust. Es war kaum noch zu erkennen. In den letzten Wochen hatte er durch den Bau der Dachterrasse viel gezaubert, sodass seine Kräfte fast aufgebraucht waren. In normalen Vollmondnächten, wenn sich seine Kraft regenerierte, spürte er nichts davon – irgendwann war es eben wieder voll. Oftmals dachte er gar nicht mehr daran, dass es sich in diesen Nächten auflud. Genau wie das Zaubern war es zur Gewohnheit geworden. Heute jedoch spürte er ein leichtes Kribbeln unter der Haut wie von tausend Ameisen.
   „Es kitzelt ein bisschen. Aber vielleicht bilde ich mir es auch nur ein.“
   Von Marcus wusste er, dass in dieser Nacht die Magie besonders stark sein würde. Es geschah alle vierzig Jahre, dass der Turner-Komet auf einen Blutmond traf und einen Sternschnuppenregen auslöste. In diesen Nächten setzte die besondere Konstellation der Sterne magische Kräfte frei, die um ein Vielfaches stärker waren als für gewöhnlich.
   Craig ließ seine Hand unter das offene Hemd auf Mareks Brust gleiten und legte sie auf das Mal. „Es ist wärmer als die umliegende Haut.“
   Marek beugte sich zu Craig und küsste ihn. Danach blickte er ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich.“
   Ein Lächeln schob sich auf Craigs Lippen. „Nein, ich liebe dich!“
   Würgelaute ließen sie herumfahren.
   „Bei dem Gesülze verpasst ihr noch den großen Moment“, spöttelte Kenneth, der auf dem Dachboden vor dem offenen Fenster schwebte.
   „Neidisch?“ Marek grinste ihn herausfordernd an. „Aber du hast recht, es dürfte nicht mehr lange dauern. Der Mond ist schon fast rot.“
   „Meine Güte, wenn es heute Abend nichts wird, dann eben das nächste Mal.“
   „Das nächste Mal, wenn ein solcher Sternschnuppenregen auf einen Blutmond trifft, bin ich fünfundsiebzig. Frag Marcus – alle vierzig Jahre. Ich denke nicht, dass ich mich dann noch hier hoch traue.“
   „38,69 Jahre“, verbesserte Kenneth.
   „Klugscheißer.“
   „Ich bin eben sehr genau in den Dingen, mein Freund“, verteidigte sich der Geist.
   Marek schnaufte belustigt. „Seit wann?“
   „Seit Ende der fünfziger Jahre, als ich geboren wurde. Und jetzt konzentrier dich lieber auf den Mond, sonst verpasst du dieses einmalige Erlebnis.“ Kenneth schüttelte verständnislos den Kopf. „Sterbliche“, murmelte er verächtlich.
   Mareks Blick fiel auf Craig, der wie versteinert neben ihm saß und den Mond anstarrte. Innerlich schlug er sich gegen die Stirn. Wie hatte er nur so etwas sagen können? Er hatte Craigs wunden Punkt getroffen. Nein, durchbohrt. Seit sie sich kennengelernt hatten, war Craig besorgt, wenn er an Mareks Sterblichkeit dachte. Er sprach nicht mehr darüber, aber Marek sah es ihm an. Jedes Mal.
   „Es geht gleich los“, lenkte er ab und legte seinen Arm um Craig. Er zog ihn an sich und küsste ihn auf die Wange.
   Tatsächlich verfärbte sich der Mond nun immer schneller. Das zarte Rot wurde immer dunkler, bis er blutrot leuchtete. Mareks Mal begann sanft zu pulsieren. Es verstärkte sich und wurde zu einem Pochen. Hitze wallte in seiner Brust auf. Ehe er es richtig begreifen konnte, schoss der Komet am Mond vorbei. Ein tiefblauer Streifen zog sich über die rote Scheibe am Himmel. Als er die Mitte des Mondes erreicht hatte, blitzte es auf. Es schien, als hätte sich etwas aus dem Kometen gelöst. Ein zweiter Streifen entstand und dieser jagte direkt auf sie zu. Wie aus dem Nichts rasten dazu unzählige Sternschnuppen über den Himmel.
   Marek saß mit offenem Mund neben Craig und konnte sich nicht von der Stelle rühren.
   „Kommt das hierher?“, fragte Craig ungläubig.
   Einen Moment später leuchtete der Himmel über dem Moor für ein paar Sekunden bläulich flirrend, ehe es wieder dunkel um sie herum wurde.
   „Was war das?“, fragte Marek und sah zu Craig.
   „Sah aus wie eine verirrte Sternschnuppe oder so etwas.“
   Marek schaute erneut zum Mond. Der Komet war verschwunden und der Erdtrabant wurde sichtlich heller, lediglich die Sternschnuppen flogen über den Himmel, wenn auch lange nicht mehr so zahlreich wie noch vor einigen Augenblicken. Marek glaubte, einen zarten bläulichen Schimmer über dem Moor zu erkennen.
   „Es ist vorbei.“ In der Aufregung hatte er nicht mehr an sein Mal gedacht. Die Hitze und das Pochen waren verschwunden. Marek blickte an sich herab. Fast schwarz prangte es nun wieder auf seiner Brust. Erleichtert ließ er sich zurücksinken.
   Craig starrte noch immer auf die Stelle am Horizont, wo das Leuchten am stärksten gewesen war.
   Ehe sie sich versahen, tauchte das silberne Mondlicht die Umgebung wieder in eine mystische Atmosphäre und das Leuchten war gänzlich verschwunden.
   „Und wegen diesem bisschen hat Marcus jetzt wochenlang alle genervt?“, kommentierte Kenneth vom Fenster aus. „Ich geh dann mal Staubteufel zählen, das ist interessanter.“
   Marek blickte zu ihm und konnte gerade noch sehen, wie er sich auflöste.
   „Was machen wir jetzt?“, fragte Craig und lehnte sich über Marek.
   „Ich hätte da so eine Idee …“ Ein freches Grinsen umspielte seine Lippen, als er begann, Craigs Hemd aufzuknöpfen.
   „Und das Gewitter?“
   „Das ist noch weit, weit weg.“

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