Sirmione & Mord - Pizza, Pasta, Tod
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Kapitel 1 - Ab in den Süden
Niels wuchtete seinen Koffer in den winzigen Kofferraum des alten Spiders. Der Deckel schloss mit einem satten Klacken. Regen peitschte ihm ins Gesicht, kalt und unbarmherzig, als wollte er ihn darin bestätigen, dass es an der Zeit war, Bamberg zu verlassen.
Fluchend rannte er um den Wagen, riss die Beifahrertür auf und ließ sich in den Sitz fallen.
„Bitte.“ Sofia hielt ihm mit einem nachsichtigen Grinsen eine Packung Papiertaschentücher entgegen. Die Tropfen trommelten auf die Windschutzscheibe, als schlügen unsichtbare Hände einen schnellen Beat, der ungeduldig forderte: Los, los, los!
„Danke.“ Niels zog ein Taschentuch heraus, wischte sich das Gesicht ab und schaute zu seiner Schwester. Seine Mundwinkel zuckten. Er griff nach einer ihrer Locken, die im spärlichen Licht der Straßenlaternen leuchtete. „Rot?“
„Herbstfeuer, Schätzchen, nicht Rot.“ Sie drehte den Zündschlüssel und der Motor erwachte mit einem kehligen Brummen zum Leben. „Ich wollte mal was anderes.“
„Wie passend.“ Niels lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster hoch zu der Wohnung, in der er lebte. Der Regen zog silbrige Spuren über das Glas und der Himmel hing schwarz und schwer über ihnen wie ein Vorhang, der sich nicht lüften wollte. Es war Mai, aber es fühlte sich wie Oktober an.
„Bei dem Wetter hätten wir den Skoda nehmen sollen.“
„Das alte Ding?“ Sofia lachte süffisant auf, setzte den Blinker und lenkte den Spider geschmeidig auf die Straße.
„Zumindest war ich schon auf der Welt, als er gebaut wurde … im Gegensatz zu dir und diesem Vehikel.“ Er tippte auf das Armaturenbrett und gähnte. Wer um alles in der Welt fährt nachts um drei Uhr nach Italien?
Sofia verzog empört das Gesicht. „Das kannst du ja wohl nicht vergleichen. Außerdem passt der Spider perfekt für Italien. Und so begleitet uns auch Opa.“
Niels lehnte seinen Kopf zurück und lächelte. So taff wie seine Schwester normalerweise war, so sentimental wurde sie, wenn es um die Familie ging. Sie würde sich niemals von dem Wagen trennen, den sie von ihrem Großvater geerbt hatte. Sofia hatte ihn aufpolieren und instand setzen lassen, und nun schimmerte der Lack fast so, als wäre das Auto gestern erst aus der Fabrikhalle gerollt.
Bald hatten sie Bamberg hinter sich gelassen und fuhren auf der A 73 in Richtung Nürnberg. Der Vorteil dieser frühen Stunde war, dass die sonst stark befahrene Strecke fast leer vor ihnen lag.
Sofia drückte die Kassette, die bereits im Kassettendeck des Autoradios steckte, komplett hinein, tippte auf Play und die ersten Takte von Sempre sempre tönten aus den Lautsprechern.
Niels zog eine Braue hoch. „Echt jetzt?“
„Was? Das gehört dazu.“ Sie trommelte mit den Fingerspitzen zum Rhythmus aufs Lenkrad. „Wir haben immer diese Songs gehört, wenn wir nach Italien gefahren sind.“ Für einen Moment schwieg sie und schien nachzudenken, dann drehte sie ihm mit einem warmen Lächeln das Gesicht zu. „Danke übrigens.“
Niels blinzelte. „Danke wofür?“
„Dass du mitkommst. Ich fühle mich sicherer, wenn wir uns zu zweit um den Verkauf kümmern.“
„Das hättest du auch allein hinbekommen.“ Er wandte sich ab, ließ seinen Blick nach draußen schweifen. Die Tropfen auf der Seitenscheibe verzerrten die Lichter der anderen Autos zu flüchtigen Streifen. Alles war flüchtig, genau wie in den letzten Monaten seines Lebens. Noch vor einem halben Jahr hatte er fest auf beiden Beinen gestanden. Eine gemütliche Wohnung, die sein Zuhause gewesen war. Einen Mann an seiner Seite, den er geliebt hatte. Einen Job, der ihn erfüllt hatte. Und jetzt? Jetzt war er hier, auf einer dunklen Autobahn, auf dem Weg zu einem Ort, der nicht mehr als eine Erinnerung aus Kindertagen war, mehr gab es für Niels nicht.
Er rieb sich über das Kinn. „Der Makler weiß über alles Bescheid. Wenn überhaupt sollte es doch nur noch um Detailfragen gehen.“
„Egal.“ Sofia zuckte mit den Schultern. „Ich bin froh, dass Carlos dir Urlaub gegeben hat.“
Niels lachte leise, ohne die Straße aus den Augen zu lassen.
„Obwohl …“ Sofia zögerte. „Ich finde es immer noch irgendwie schräg, dass du noch bei ihm arbeitest.“ Ihr Blick huschte prüfend zu ihm. „Also nach allem, was war. Ich könnte das nicht. Wenn mich einer verlässt, dann ist Schluss … mit allem. Ende. Aus. Basta!“
Das letzte Auto war an ihren vorübergezogen, nun war da nichts mehr außer Dunkelheit. Niels’ Gedanken trieben wie die weißen Markierungen auf dem Asphalt davon. Zurück zu jenem Tag im November, als Carlos ihn mit dieser ruhigen, fast bedauernden Stimme darüber informiert hatte, dass es vorbei sei. ‚Es liegt nicht an dir, Niels.‘ Natürlich nicht. Tat es ja nie.
Der Regen hatte damals gegen die Fensterscheiben des Restaurants gepeitscht wie heute gegen die Windschutzscheibe, als hätte der Himmel gewusst, dass sich an diesem Abend etwas ändern würde. Niels hatte den Tisch abgewischt, immer und immer wieder, als könnte er die Worte einfach weg reiben. Als könnte er so tun, als hätte er sich verhört, als hätte es diese Unterhaltung nie gegeben. Aber das hatte er nicht. Und dann war er gegangen, mit nichts als einem Rucksack und seiner weißen Kochjacke, die noch nach Tomaten und Basilikum gerochen hatte.
Ein Freund hatte ihm angeboten, in dessen Wohnung unterzukommen – ein Glücksfall, weil der eigentliche Mitbewohner für ein Jahr nach Australien gezogen war.
Die ersten Wochen seines neuen Lebens waren die Hölle gewesen. Jeden Tag Carlos zu begegnen, ihn in seinem Restaurant herumlaufen zu sehen, den Mann zu ertragen, den er noch immer liebte, obwohl er ihn nicht mehr wollte – es war ein täglicher Kraftakt. Aber irgendwann hatte sich etwas verändert. Irgendwann hatte er gemerkt, dass es auch für ihn vorbei war. Carlos war sein Chef, er war der Koch. Nichts weiter. Bis … Ja, bis …
„Hallo? Erde an Niels!“ Ein Finger bohrte sich schmerzhaft in seine Schulter.
„Was?“ Er blinzelte und sah in Sofias amüsiertes Gesicht.
„Wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken?“ Sie zog die Nase kraus. „Ich habe gefragt, ob du schon eine neue Wohnung hast. Kommt dieser Sven nicht im September zurück?“
„Nein, also ja.“ Er seufzte und ließ sich tiefer in den Sitz sinken. „In Bamberg eine bezahlbare Wohnung zu finden … Eher bringst du einer Katze bei, dir jeden Morgen das Frühstück zu servieren.“ Er blies Luft durch die Zähne. „Und, wenn ich ehrlich bin … ich weiß im Moment auch gar nicht, ob ich dortbleiben will.“
„Aha … Du Vollpfosten.“
Überrascht wandte er sich zu Sofia um, doch ihr Blick klebte auf einem Golf 3 vor ihr. Der Wagen pendelte von links nach rechts über die gestrichelte Linie.
„Ich wette, das ist ein Opa. In diesem Alter gehört man um diese Uhrzeit ins Bett.“ Sie schüttelte den Kopf, blinkte und gab Gas. Als sie an ihm vorbeifuhr, verzog sie das Gesicht zu einer dramatischen Grimasse. „Männer!“
Nachdem sie eingeschert hatte, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. „Also: Was ist los? Und jetzt sag nicht nichts. Ich kenne dich.“
Niels senkte den Kopf und zögerte. Eigentlich wollte er nicht darüber reden, aber sie würde sowieso nicht lockerlassen, also … warum es nicht lieber gleich hinter sich bringen? „Ich habe keinen Urlaub.“ Seine Stimme klang ruhiger, als er sich fühlte. „Ich habe fristlos gekündigt.“
„So, so, hast du das? Und der Grund?“ Sie wirkte nicht sonderlich überrascht.
„Seelische Grausamkeit.“
Ihr Finger klopfte im Takt zu Bello e impossibile auf das Lenkrad, während Gianna Nannini mit voller Leidenschaft aus dem Lautsprecher schrie.
„O mein Gott. Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Los. Dann erzähle ich dir auch etwas.“
Niels warf ihr einen fragenden Blick zu. „Was denn?“
„Du zuerst.“
Er ließ die Luft langsam aus seiner Lunge entweichen. „Als ich vorgestern in die Küche kam, lernte ich Carlos’ neuen Lebensgefährten kennen.“
„Und weiter …? Es war doch klar, dass das über kurz oder lang passieren wird. Oder nicht?“
„Besser kennen, als mir lieb war“, nuschelte Niels.
Sofia runzelte die Stirn.
„Sie …“ Niels fuchtelte verlegen mit den Händen in der Luft. „Also Carlos und er waren … beschäftigt … du weißt schon ... in meiner Küche.“
„Sie haben es getrieben?“, quietschte Sofia so laut, dass er zusammenzuckte.
„Carlos hat sich zwar entschuldigt und es war ihm sichtlich peinlich …“
„Aber …?“
„Danach erfuhr ich, dass er seinem Neuen einen Job als Küchenhelfer gegeben hat, es war sein erster Arbeitstag, sozusagen. Das war’s.“
Sofia schwieg einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. Und als Nächstes prustete sie los. „Entschuldige, aber ich stelle mir gerade die Situation vor.“ Sie hielt sich mit einer Hand den Bauch, während sie mit der anderen das Lenkrad umklammerte.
Niels verschränkte beleidigt die Arme. „Also ich fand es nicht gerade witzig.“
„Fandest du? Oder findest du?“ Sie schnappte nach Luft, wischte sich die Tränen aus den Augen. „O Gott, der arme Carlos! Und ausgerechnet du erwischst sie. Die beiden treiben es wie Karnickel und dann kommst ausgerechnet du rein!“
So sehr er auch dagegen ankämpfte, er konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf seine Lippen schob. Eins, das immer breiter wurde und schon im nächsten Augenblick konnte auch er sich nicht mehr halten. Niels schnappte nach Luft, so sehr verkrampfte sich sein Körper, die Tränen flossen über seine Wangen.
„Das tat gut“, japste er, als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, und lehnte den Kopf gegen die Stütze. „Und … so ein bisschen was von Karnickeln hatte es tatsächlich.“ Er drehte sich zu Sofia. „Ich liebe dich, Schwesterherz.“
„Ich liebe dich auch.“ Sie tippte ihm sanft gegen den Arm. „Sei froh, dass es so gekommen ist. Jetzt hast du endlich einen Abschluss und kannst neu durchstarten.“ Für einen Moment schwieg sie. Lediglich das rumpelnde Brummen der Räder auf dem Asphalt war zu hören. „Du hättest damals Mamas Restaurant übernehmen sollen, bevor es verkauft wurde.“
„Ich war siebzehn“, verteidigte sich Niels.
„Na und? Du wärst er jüngste Gastronom Deutschlands … ach was … der Welt gewesen.“
„Du spinnst doch.“
„Das wäre ein Abenteuer gewesen. So wie damals, wenn wir mit Mama und Paps bei Teresa waren und auf der Grotte di Catullo verstecken gespielt haben.“
Sofias Worte schickten Niels’ Gedanken auf die Reise, zurück zu heißen Sommertagen, an denen der Himmel über dem Gardasee so blau war, dass es fast wehtat. Er sah sich mit ihr zusammen durch die alten Ruinen rennen, barfuß auf dem warmen Stein. Die Luft gefüllt von Pinienharz und Seewasser, und das Licht fiel golden auf die zerbröckelten Mauern.
Niels blinzelte, als würde allein diese Erinnerung den Geruch von Sonne auf heißem Stein zurückbringen. Wie sehr wünschte er, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können. Noch einmal einen dieser Sommer zu erleben. Noch einmal diese Unbeschwertheit zu spüren.
„Damals war das Leben noch aufregend und schön“, murmelte er rau und ein wenig abwesend. „Ich vermisse die beiden.“ Ein Hauch von Sentimentalität durchwehte ihn wie eine warme Brise.
„Ja, ich auch. Jeden Tag.“ Sofias Stimme war leise, aber fest.
Er sah wieder zu ihr. „Also, jetzt du!“
Sofia atmete tief durch. „Ich habe beschlossen, ebenfalls neu zu beginnen. Diese Klinik macht mich verrückt.“ Sie sprach langsam, beinahe genießerisch, als würde sie die Worte zum ersten Mal laut aussprechen. „Das Arbeitsklima im Krankenhaus ist absolut grottig geworden, seit der neue Verwaltungschef am Ruder ist. Ich habe das Gefühl, ich behandle keine Patienten mehr, sondern bin nur damit beschäftigt, dass Zahlen nicht rot werden. Das ist nicht das, wofür ich studiert habe.“ Sie drehte den Kopf zu ihm. „Es ist Zeit für etwas Neues. Und wer weiß – vielleicht war es Schicksal, dass Teresa uns diese Villa und das Restaurant vererbt hat.“
„Der Verkauf dürfte genügend Geld bringen, um uns beiden einen Neuanfang zu ermöglichen.“ Niels tippte auf das Knie.
Draußen begannen sich die Wolken aufzulösen und erste blasse Lichtstreifen tauchten den Himmel über der Autobahn in ein gedämpftes Grau.
„Vielleicht gehe ich nach Hamburg oder Berlin, vielleicht auch nach München“, sagte Sofia dann.
Niels lachte leise. „Vielleicht komme ich mit. Ohne mich wärst du verloren.“
„Meinst du?“ Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Wäre es nicht vielmehr so, dass du ohne mich aufgeschmissen wärst?“
Er grinste. „So oder so. Es wäre schön, dich weiter in meiner Nähe zu haben.“ Unablässig trommelte er mit den Fingern auf sein Knie, während sein Blick an den vorbeiziehenden Lichtern hängen blieb. Der Name Teresa hallte in seinem Kopf nach. „Ich hab ewig nichts mehr von Teresa gehört“, sagte er nachdenklich. „Eigentlich seit Mamas Beerdigung nicht mehr. Deswegen war ich auch so überrascht, dass sie uns alles vererbt hat.“
„Sie hatte keine Kinder, war, soweit ich weiß, nie verheiratet und Mamas beste Freundin …“, versuchte sich Sofia an einer Erklärung. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Aber egal. Es ist, wie es ist. Wir gönnen uns jetzt ein paar Tage Auszeit. Ich freue mich schon so auf Sirmione.“
„Und lassen den Makler seinen Job erledigen“, fügte Niels hinzu. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Sirmione. Er konnte die Stadt fast riechen. Das klare Wasser des Sees, vermischt mit dem Duft von frisch gebackener Focaccia, der am Morgen aus den kleinen Bäckereien strömte. Das vibrierende Leben auf der Piazza, wenn sich am späten Nachmittag die Tische mit Menschen füllten, die ein Glas Spritzz in der Hand hielten und dann in der Wärme des Abends versanken.
Sofia nickte und tippte mit dem Finger auf das Lenkrad. „Ich habe gestern noch mit Signora Giordano telefoniert. Sie richtet uns zwei Zimmer in Teresas Villa her.“
„Signora Giordano?“
„Das ist die Haushälterin von Teresa. Ich habe mit ihr ausgemacht, dass sie noch bleibt, bis der Verkauf über die Bühne gebracht ist.“ Sofia schüttelte den Kopf. „Sie meinte, Teresa war zwar krank, aber ihr Tod kam trotzdem für alle völlig überraschend.“
„Was hatte sie eigentlich?“
„Krebs. Genau wie Mama.“
Bevor Niels etwas erwidern konnte, deutete sie auf ein Schild, das auf ihrer Seite näher kam und anzeigte, dass sie bald München erreicht hatte. „Halbzeit.“
Niels lehnte den Kopf zurück und blinzelte in den Himmel. „Meinst du, er wird auch da sein?“
Sofias Augen verengten sich einen Wimpernschlag lang. „Er wohnt in Sirmione. Also wird er wohl auch da sein. Aber Sirmione ist groß. Wenn wir Glück haben, werden wir ihm nicht begegnen.“
„Ich hoffe es, nach allem, was war …“, murmelte er und spürte, wie er schwer wurde.
Der Regen hatte nachgelassen. Ein schmaler Streifen Morgenlicht schob sich über den Horizont, färbte die Wolkenränder jetzt in sanftes Rosa. Er gähnte, ließ die Lider sinken, während ihn das gleichmäßige Rattern der Reifen und das gedämpfte Murmeln des Motors einlullten.
Italien rückte näher. Und damit ein Neuanfang. Sein Neuanfang.
Bevor er endgültig in den Schlaf fiel, war da noch der letzte Gedanke, der ihm durch den Kopf huschte – leise und schwerelos wie die erste Morgensonne: Vielleicht war es wirklich Schicksal.
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