Toskanaherzen

Kapitel 1 – Jenson 

Nach seinem Vortrag fiel Jensons Blick auf Ingram Ackerman. Dieser hatte den Kopf gesenkt und machte sich Notizen in seine Dokumentenmappe, die geöffnet vor ihm lag. Ganz von selbst formte sich in seinen Gedanken das Bild eines Buddhas. Ackermans runder Kopf und sein schwerer Atem taten ihr Übriges dazu. Ihm schräg gegenüber saß Florence, seine Assistentin, lächelte ihm aufmunternd zu und strich sich eine Strähne ihres rot gelockten Haars aus dem Gesicht.
   Jensons Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Wochen der Vorbereitung lagen hinter ihm und hatten in diesem Pitch gemündet. Er hatte alles gegeben. Nun lag es an Ackerman, wie und ob es weitergehen würde.
   „Sie haben einige sehr interessante Ansätze, Mr Cornett.“ Ackerman ließ seinen Füllfederhalter in der Aktentasche verschwinden und klappte sie zu.
Jenson fiel ein Stein vom Herzen – er war noch im Spiel. Das erkannte er an dem Lächeln und der Art, wie Ackerman ihn jetzt ansah.
   „Gäbe es die Möglichkeit, dass ich irgendwo ungestört telefonieren kann?“
   „Natürlich. Kommen Sie, ich bringe Sie in unseren anderen Konferenzraum.“ Florence stand auf und deutete mit einer Handbewegung lächelnd zur Tür.
   „Geben Sie mir ein paar Minuten“, wandte sich Ackerman an Jenson und hievte seinen massigen Körper vom Stuhl, auf dem er gesessen hatte.
   „Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie benötigen.“ Jenson nahm die Fernbedienung des Whiteboards und schaltete es aus, während sein Kunde das Zimmer verließ. Erleichtert sank er auf einen der Stühle. Er hatte es geschafft. Eine tiefe Zufriedenheit legte sich um sein Innerstes. Kein Hänger, kein Patzer. Alles war reibungslos gelaufen.
   Einen Augenblick später kam Florence zurück in das kleine Besprechungszimmer. Sie drückte die Tür hinter sich ins Schloss, dann drehte sie sich zu Jenson um. Ein breites Grinsen schob sich über ihren geschäftigen Gesichtsausdruck. Leise klatschte sie in die Hände. „Du warst phänomenal.“
   „Danke.“ Jenson spürte Wärme in seinen Wangen aufwallen. Wurde er rot? Noch immer konnte er nur schwer Lob annehmen, selbst wenn es von seiner engsten Freundin kam.    „Dann hoffen wir, dass es gereicht hat. Wir brauchen diesen Auftrag.“ Er atmete langsam aus und legte seine Stirn in Falten.
   „Wir werden ihn bekommen. Wenn ich seinen Blick richtig gedeutet habe, war er begeistert und wenn nicht …“, Florence winkte ab, „bekommen wir eben einen anderen. Ach, was sage ich. Er wäre ein Idiot, wenn er jemand anderen für sein Marketing nehmen würde.“
   Sie kam zu Jenson und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dir nicht so einen Druck. Du kannst in sechs Wochen nicht wiedergutmachen, was dein Vater in all den Jahren versäumt hat.“
   Jenson stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er seinen Angestellten kündigen müsste. Seinen Leuten. Menschen, für die er sich verantwortlich fühlte. Er stockte innerlich – es war das erste Mal, dass er die Angestellten seines Vaters als seine Leute wahrnahm.
Eiseskälte kroch in ihm hoch. Nein, das konnte er nicht tun. Nach dem Tod seines Vaters hatte er dessen Marketingagentur übernommen. Der erste Gedanke, nachdem er davon erfahren hatte, dass sein Vater ihm die Firma übertragen hatte, war, die Firma zu verkaufen. Aber das hätte er nicht übers Herz gebracht. Die Menschen, die hier arbeiteten, waren nach dem frühen Tod seiner Mutter zu seiner Familie geworden. Er war mit ihnen aufgewachsen.
   Er dachte an Maria. Sie schrieb nicht nur die prägnantesten und griffigsten Slogans, ihr Sohn war lange Zeit wie ein Bruder für ihn gewesen. Sie hatte sich mehr um ihn gekümmert, als es sein Vater jemals getan hatte. Oder Walter, der Buchhalter der Firma, der ihm das Schwimmen beigebracht hatte. Jenson wusste es noch, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatten damals einen Betriebsausflug an einen See in der Nähe von Birmingham gemacht. Die Erinnerung an das Gefühl, als er gemerkt hatte, dass Walter ihn nicht mehr hielt, sondern er ganz allein schwamm, blitzte in ihm auf. Er hörte wieder Walters Lachen und sein „Du kannst es!“.
   Diese und viele andere Gründe hatten dagegen gesprochen, seinem ersten Impuls zu folgen und die Firma zu verkaufen. Angst, das wusste Jenson, war nie ein guter Ratgeber. Und Angst war es gewesen, die in ihm aufgeflammt war, nachdem er vom Tod seines Vaters erfahren hatte. Die Angst, es nicht schaffen zu können. Ein Gefühl, das ihm sein alter Herr zeitlebens gegeben hatte, auch noch, als er nach all den Streitereien mit ihm aus dem Familienunternehmen ausgestiegen war. Doch heute, hier und jetzt, war es ihm bewusst: Sie können es schaffen. Er kann es schaffen.
   Es war unumstößlich, er würde alles dafür tun, dass sie ihren Job behielten. Nicht zuletzt auch wegen Florence. Immerhin war sie nicht nur die Assistentin seines Vaters gewesen – sondern schon seit Kindheitstagen seine beste Freundin. Der einzige Mensch, dem er bedingungslos vertraute und der wirklich alles über ihn wusste.
   Ein Klopfen an der Tür holte ihn aus seinen Gedanken. Noch bevor er etwas rufen konnte, hatte Ackerman sie schon geöffnet und war zurück in den Konferenzraum gekommen.
Jenson versuchte, seine Miene zu deuten, als er sich an den Tisch setzte. Die paar Schritte aus dem Nachbarzimmer schienen ihn angestrengt zu haben. Er atmete schwer und sein Gesicht war gerötet.
   „Also, Mr Cornett … ich würde sagen, wir machen das!“ Kurz huschte ein Lächeln über Ackermans Lippen. „Es ist zwar noch einer Ihrer Konkurrenten im Spiel, aber Ihr Konzept hat mich schon jetzt überzeugt“, ergänzte er und sah Jenson mit festem Blick an. „Bis wann können Sie die Verträge fertig machen? Ich bin noch bis übermorgen in der Stadt.“
   „Wie wäre es mit heute Abend?“, schoss es aus Jenson. Sein Blick glitt zu Florence, die kaum merklich nickte.
   Ein wissendes Lächeln schob sich auf Ackermans Lippen und er stand auf. „Sehr gut. Ich habe eine Suite im Grand Savoy. Heute Abend um acht?“
Jenson sah erneut zu Florence, die wieder nickte. „Heute Abend um acht. Ich werde da sein.“
   Ackerman verabschiedete sich und verließ den Konferenzraum. Als die Tür ins Schloss fiel, zählte Jenson bis fünf und wartete, ob er noch einmal zurückkommen würde. Dann sprang er auf und zog Florence in eine feste Umarmung. „Wir haben es geschafft!“ Hastig wischte er sich eine Freudenträne aus dem Augenwinkel. Er konnte nicht glauben, dass er den Auftrag bekommen hatte – seinen ersten für diese Firma. Jede seiner Zellen wurde von Euphorie geflutet. Es war das beste Gefühl, das er jemals verspürt hatte, besser noch, als schwimmen zu können.
   „Du hast es geschafft“, entgegnete Florence freudig. „Nicht wir.“
   „Nein! Wir haben es geschafft. Wir sind ein Team.“ Jenson ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen und blickte lachend zu seiner Assistentin, die sich vor ihm auf die Tischplatte gesetzt hatte.
   „Weißt du“, sagte er nach einer Weile, „heute habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es gut werden könnte.“
   Florence hob überrascht eine Augenbraue. „Natürlich wird es gut. Was soll das denn jetzt?“
   Jenson verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und rutschte ein wenig tiefer in seinen Stuhl. „Du weißt selbst, in welche Lage mein Vater diese Firma gebracht hat.“
   „Aber du bist nicht dein Vater.“
   Freudlos lachte Jenson auf. „Nein, das bin ich nicht.“ Und das wollte er auch niemals werden. Sein Vater hatte für ihn so ziemlich alles dargestellt, was er nicht sein wollte. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er seine Partnerinnen schneller gewechselt, als Jenson sich ihre Namen hätte merken können. Auch beruflich hatte für ihn das Motto gegolten: Mehr Schein als Sein. Die Produkte seiner Kunden hatte er nicht beworben oder verkauft, er hatte sie verhökert, wie er stets gesagt hatte. Er hatte seine Leute für ihn ackern lassen, ohne selbst etwas beizusteuern – Hauptsache, er hatte die Lorbeeren ihrer Arbeit ernten und damit glänzen können.
   Natürlich war er mit dieser Taktik irgendwann gescheitert. Die guten Leute waren abgewandert. Lediglich Maria, Walter, Florence und zwei andere waren geblieben. Wohl mehr aus Loyalität der Firma gegenüber, in der sie schon immer gearbeitet hatten, stellten sie ihre persönlichen Karrieren zurück. Für sie war diese Firma wie eine zweite Familie.
Jenson schüttelte sich innerlich und versuchte, seine Gedanken weg von seinem Vater zu lenken.
   „Dann werde ich mal eine gute Assistentin sein und dir den Vertrag aufsetzen.“ Florence sprang vom Tisch auf und schob den Stuhl darunter, auf dem sie während der Besprechung gesessen hatte.
   „Schaffst du das bis heute Abend?“, erkundigte er sich.
   „Hallo?“ Sie warf mit einer Hand ihre Lockenpracht nach hinten und hob grinsend eine Augenbraue. „Du weißt schon noch, mit wem du hier sprichst? Der Vertrag ist schon so gut wie fertig. Ich habe mir bereits erlaubt, ihn in den letzten Tagen aufzusetzen. Es müssen nur noch ein paar Details angepasst werden.“
   „Aber du wusstest doch gar nicht, ob wir den Auftrag bekommen“, erwiderte Jenson erstaunt.
   „Wusste ich nicht?“ Sie zwinkerte Jenson vergnügt zu.
   Lachend schüttelte er den Kopf. „Wenn ich dich nicht hätte.“
   „Ja, genau. Wenn du mich nicht hättest. Ich werde dich bei meiner nächsten Gehaltsverhandlung daran erinnern.“ Grinsend beugte sie sich zu ihm hinunter. „Und das wird nicht billig für dich, Sweetie-Pie.“
   Jenson folgte ihr aus dem Konferenzraum und ging zurück in sein Büro. Bevor er sich jedoch an seinen Schreibtisch setzte, holte er sich noch einen Kaffee. Dann ließ er sich zufrieden in seinen Stuhl fallen. Einen Moment lang genoss er die Wärme der Tasse in seinen Händen, die sich auf seinen ganzen Körper zu übertragen schien, und blickte aus dem Fenster. Die Sonne strahlte ihm von einem nahezu wolkenlosen Himmel entgegen und spiegelte sich in den Glasfassaden der benachbarten Gebäude.
   Sein Handy, das neben seinem Laptop lag, blinkte.
   Maurice hatte ihm geschrieben. ‚Hey, wie ist es gelaufen?‘
   ‚Alles perfekt. Was treibst du gerade?‘, schrieb Jenson zurück. Er nippte an dem Kaffee, schon vibrierte es.
   ‚Muss gleich bei meinem Alten antreten. Mal sehen, was der wieder will. Wenn ich das überlebe, gehe ich mit dir etwas essen.‘
   Ein Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. ‚Väter – man kann einfach nicht mit ihnen, und was das Essen angeht – träum weiter. Ich drücke dir trotzdem die Daumen.‘
   Es klopfte, schon wurde die Tür geöffnet. Es konnte sich dabei nur um Florence handeln, die niemals eine Antwort von ihm abwartete.
   „Schreibst du wieder mit deinem geheimnisvollen Mr X?“, fragte sie amüsiert und nickte in Richtung des Handys, das vor Jenson lag und erneut blinkte.
   „Nur kurz.“ Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte ertappt.
   „Trefft ihr euch jetzt endlich mal? Es ist doch irgendwie schräg, mit jemandem zu schreiben, ohne zu wissen, wer an der anderen Leitung tippt.“ Sie setzte sich schwungvoll auf das abgewetzte Ledersofa seines Vaters, das Jenson in dem Büro hatte stehen lassen, und überschlug die Beine.
   „Eigentlich nicht. Er ist so etwas wie ein Freund, nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Florence schüttelte den Kopf. „Ein Freund, den du noch nie gesehen hast. Seltsamer Freund. Ein Freund, mit dem man ein Date hat, ist ein richtiger Freund. Man geht essen, lacht, küsst sich und landet im Bett. Ein paar Jahre später heiratet man und alles ist Zucker. Das wäre ein Freund. Das da …“ Sie deutete wieder auf das blinkende Mobiltelefon. „Das ist bestenfalls ein Brieffreund.“ Beim Wort Brieffreund verzog sie angewidert das Gesicht und schüttelte sich.
   Jenson lachte auf. „Das, was du beschreibst, ist auch kein Freund, sondern deine von Hollywood geschwängerte Fantasie einer Liebesschnulze. Du weißt, ich bin weder an belanglosem Sex interessiert noch an einer Beziehung – oder wie auch immer du es nennen willst.“
   Florence setzte sich auf und blickte Jenson prüfend aus großen grünen Augen an. „Auch du hast Bedürfnisse. Oder bist du nach Mike asexuell geworden?“
   „Ich habe die hier.“ Er hob seine rechte Hand und winkte Florence zu. „Rechte Hand, darf ich dir Florence vorstellen. Florence, rechte Hand.“
   „Das ist nicht dasselbe.“ Florence winkte ab und lehnte sich wieder zurück.
   „In diesem Punkt muss ich dir allerdings recht geben.“ Jenson sah seine Hand an. „Kein Ärger, keine Lügen, kein anderer Kerl, keine enttäuschten Erwartungen.“
   „Ach komm schon. Es sind nicht alle so. Du schreibst mit diesem Typen jetzt schon seit Wochen.“
   „Ganz genau. Wir schreiben, sonst nichts – und das ist auch gut so.“ Jenson strich mit seinem Zeigefinger über den Handybildschirm und lächelte. „Verrückt, dass sich aus einer plumpen Anmache so etwas entwickelt hat. Hin und wieder habe ich den Eindruck, ich würde mit einem Seelenverwandten texten.“ Als Maurice ihn vor einiger Zeit mit einem ‚scharfe Krawatte‘ angeschrieben hatte, hätte er beinahe nicht geantwortet. Doch inzwischen war er froh, dass er mit einem ‚nettes Hemd‘ gekontert hatte, dabei trug er auf dem uralten Foto in seinem Profil seine liebste blau-weiß gestreifte Krawatte, zumindest war sie das gewesen – damals. Und Maurice ein furchtbares Hawaiihemd in schrillen Farben.
   „Hey“, protestierte Florence, „ich bin deine Seelenverwandte.“
   Ein Grinsen schob sich auf Jenson Lippen. „Ja, das bist du.“
   „Ich gebe die Hoffnung jedenfalls nicht auf, dass es sich noch weiterentwickelt. Weißt du jetzt wenigstens, wie er wirklich heißt?“
   „Wozu?“, fragte Jenson. „Für mich ist er Maurice87 und ich bin für ihn Bertyco.“
   „Das ist auch so was. Ausgerechnet der Namen deines Vaters?“ Sie schüttelte ihre Lockenmähne.
   „So ist er wenigstens für etwas Gutes in meinem Leben verantwortlich. Aber du bist doch bestimmt nicht hergekommen, um mit mir über meinen Chatfreund zu sprechen.“
   „Du Schlaufuchs. Schau mal in deine Mails. Ich habe dir den Vertrag geschickt. Lies ihn bitte noch einmal durch und dann ab mit dir.“ Sie deutete zur Tür, machte einen kleinen Knicks und verschwand anschließend selbst in die gedeutete Richtung.

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