Grisper Castle - Weihnachtszauber
Kapitel 1 – Ein Abend im November
Ernest stand auf dem Gehsteig der gegenüberliegenden Straßenseite seines Kaufhauses und betrachtete mit einem Lächeln im Gesicht die Schaufenster. Ein eisiger Wind wehte ihm um die Nase, doch er fror nicht. Er war zufrieden mit der Arbeit, die er und Ruby geleistet hatten. Der erste Schnee fiel auf die Straße. Die rieselnden Flocken, die im Licht der Schaufensterbeleuchtung funkelten, verstärkten die magische Atmosphäre der wunderschön dekorierten Auslagen.
In knapp zwei Wochen war der erste Dezember, und die Vorbereitungen für die diesjährige Weihnachtssaison waren bereits in vollem Gang. Gespannt blickte er ihr entgegen, dieses Jahr würde alles ein wenig anders sein als in den Jahren zuvor. Den Mann, dem das Gebäude gehört hatte, in dem sich sein Laden befand, gab es nicht mehr.
Seit Angus vor ein paar Monaten im Moor verschwunden war, war alles besser geworden. Keine weitere Geldforderung war in seinem Briefkasten gelandet. Und auch die ohnehin schon überhöhte Pacht würde dieses Jahr nicht ansteigen. Angus war gestorben, dessen war sich Ernest sicher. Es konnte nicht anders sein – alle, die durch die Geisterfrauen verschleppt worden waren, waren nie wieder zurückgekehrt. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn offiziell für tot erklären würde. Was dann mit seinen Besitztümern geschehen würde, war Ernest egal. Da es keinen Erben gab, würden sie wahrscheinlich der Allgemeinheit zufallen. Egal, wie es laufen würde, für ihn konnte es nur besser werden.
Rein vorsorglich hatte Ernest die Preise seines Sortiments kräftig angezogen. Dieses Weihnachten würde er sich ein finanzielles Polster zulegen, von dem er lange würde zehren können.
„Du hast dich in diesem Jahr selbst übertroffen.“
Ernest dreht sich um, hinter ihm standen John Woods, der Bürgermeister von Darkmoor, und sein Bruder, der Pfarrer, die ihn freundlich anlächelten.
„Das finde ich auch. Vielen Dank!“
„Deine Fenster zaubern schon jetzt weihnachtlichen Glanz in die Straße“, stellte John bewundernd fest.
Ernests Grinsen vertiefte sich. „Das freut mich zu hören, aber vor allem sollen sie Geld in meine Kassen spülen.“ Er lachte auf und schlug John mit der Hand gegen die Schulter.
Dieser nahm seine Brille ab und wischte mit dem Taschentuch eine geschmolzene Schneeflocke weg, die sich auf das Glas gesetzt hatte. „Das auch, aber genau genommen geht es an Weihnachten ja nicht um den Kommerz. Ich liebe diese Jahreszeit für den besonderen Zauber, den sie auf die Menschen ausübt – so wie es deine Schaufenster tun.“ John deutete zu Ernests Kaufhaus.
„Seit wann denn so gefühlsduselig, John?“
„Weihnachten ist das Fest der Nächstenliebe und der Familie“, mischte sich Ralph in das Gespräch ein.
Ernest winkte ab und grunzte auf. „Vielleicht zählt das für den Weihnachtsabend. Für die Weihnachtszeit gilt es auf jeden Fall nicht. Da geht es um nichts anderes als ums Geld, auch wenn Sie das nicht gerne hören, Herr Pfarrer.“
John blickte Ernest verwundert an und lächelte verhalten. „Jeder, wie er meint, wenn für dich der Gewinn an erster Stelle steht, dann hoffe ich, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht und du zufrieden bist.“
Der Bürgermeister und sein Bruder verabschiedeten sich und gingen weiter die Straße entlang.
Ernest blickte den beiden noch eine Weile hinterher, dann lief er gut gelaunt zurück in seinen Laden. Er zwängte sich zwischen den Kunden hindurch, bis zu seiner Assistentin, die neben der Treppe stand und letzte Hand an den Weihnachtsbaum anlegte.
„Sehen sie gut aus, von außen?“, fragte Ruby, während sie eine Kugel an einen der Zweige hängte.
„Perfekt. Wie aus einem Weihnachtsmärchen“, antwortete er.
„Mr Cunningham, ich hätte eine Frage.“ Ruby blickte ihren Boss scheu an.
„Was gibt es denn?“
„Wie sieht es dieses Jahr mit einem kleinen Bonus zu Weihnachten aus?“ Verschämt verschränkte sie ihre Hände hinter dem Rücken.
Ernest lachte auf. „Zahle ich dir nicht schon genügend? Einen Bonus gab es in den letzten Jahren nicht und wird es auch dieses Jahr nicht geben. Ich bin nicht die Wohlfahrt.“
„Wir haben die Preise erhöht, obwohl wir nicht mehr dafür bei unseren Lieferanten zahlen. Sie werden also mehr Gewinn machen. Und Sie sind zufrieden mit meiner Arbeit. Ich bitte nicht nur für mich, sondern auch für die anderen hier“, argumentierte Ruby und nickte zu ihren Kollegen, die an den Kassen saßen.
„Und dafür garantiere ich euch einen sicheren Arbeitsplatz.“ Ernest hob erbost eine Augenbraue.
„Ich wollte meinem Vater dieses Jahr ein besonders schönes Weihnachtsfest bieten“, flehte Ruby.
„Dann kümmere dich besonders gut um ihn und sei eine gute Tochter. Das kostet nichts und bewirkt mehr als teure Geschenke. Thema beendet!“ Ernest ließ Ruby stehen und ging in sein Büro. Es fehlte gerade noch, dass ihm seine Angestellten etwas von seinem Gewinn streitig machen wollten. Dafür, dass sie im Laden herumstanden und nichts taten, zahlte er nun wirklich mehr als genug.
Ernest saß in seinem Büro, durch dessen Fenster er seinen Laden überblicken konnte, und studierte die Verkaufszahlen, während er überlegte, für welche Waren die Preise noch immer zu niedrig waren. Spielwaren und Nahrungsmittel kamen ihm in den Sinn. Je näher das Fest rückte, desto dringender wurden Artikel aus diesem Sortiment benötigt. Zufrieden grinste er in sich hinein und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken an Zahlen und Gewinne.
„Herein“, rief er donnernd.
Die Tür schwang auf und Ruby trat ein.
„Was gibt es denn schon wieder?“
„Es sind zwei Damen des Kinderkrankenhauses im Laden und fragen nach einer Spende. Sie würden sich über ein paar Stofftiere freuen, für die Kinder, die an Weihnachten im Krankenhaus bleiben müssen.“
„Spende? Nichts da. Gib ihnen den Katalog. Sie können gerne etwas bestellen und wir liefern es ihnen kostenlos“, wiegelte er ab und deutete auf einen Stapel Kataloge, der in einem Regal lag.
„Wir haben doch die Bären mit den kaputten Nähten im Lager. Die kann man doch ohnehin nicht mehr verkaufen. Ein paar Nadelstiche und sie sind wie neu“, entgegnete Ruby.
„Bist du verrückt? Die reklamieren wir! Und jetzt raus. Ich habe zu tun.“
Ruby wagte nicht noch einmal zu widersprechen und verließ das Büro. Ernest beobachtete sie missmutig durch das Fenster. Sie lief die Treppe nach unten, wo zwei Frauen auf sie warteten. Nach einer kurzen Unterhaltung gingen sie kopfschüttelnd zum Ausgang.
Im Laden war noch jede Menge los. An den beiden Kassen bildeten sich lange Schlangen. Doch kurz nach sieben Uhr leerte es sich spürbar und eine Stunde später ließ Ruby die Gitter vor den Fenstern und dem Eingang hinunter. Die Kassierer machten ihre Abrechnung und verabschiedeten sich. Auch Ruby verließ, nachdem sie noch einmal bei Ernest im Büro gewesen und einen schönen Abend gewünscht hatte, das Gebäude.
Schon war er allein im dunklen Kaufhaus. Lediglich ein leichter Lichtschimmer, der von der Leuchtreklame und den Straßenlaternen durch die Schaufenster fiel, erhellte den Laden. Ernest spielte die neuen Preise in das System der Kassen, dann fuhr er seinen Computer herunter. Er schloss die Tür zu seinem Büro ab und stellte sich an das Geländer, von dem aus er die gesamte untere Etage überblicken konnte. Er liebte dieses Gefühl, wenn ihm der Laden zu Füßen lag. Sein Blick schweifte über die Gänge. In solchen Momenten fühlte er sich erhaben und unbezwingbar.
Nachdem er eine Weile diesen Anblick in sich aufgesogen hatte, verließ er den Laden durch die Hintertür. Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und rüttelte an der Tür, um sicherzugehen, dass sie wirklich verschlossen war.
Lautlos fielen die Flocken auf die verschneiten Wege und auch die Luft roch nach Schnee. Er schwang sich seinen Schal ein zweites Mal um den Hals und zog seine Mütze tiefer ins Gesicht.
Ernest trat den Weg nach Hause an. Auf den Straßen herrschte Stille – die Bewohner von Darkmoor waren in ihren Häusern und genossen die behagliche Wärme ihrer Wohnzimmer. Warm fiel auch der Schein der erleuchteten Fenster auf die Gehwege. Er freute sich darauf, das Feuer in seinem Kamin zu entzünden und mit einer opulenten Mahlzeit vor dem Fernseher zu sitzen.
Sein Haus lag am Rande des Städtchens. Er bog von der Hauptstraße ab und lief die Glassford Street mit ihren Reihenhäusern entlang. Knirschend versanken seine Schuhe im frisch gefallenen Schnee. Er sah nach unten, um die Fußspuren, die er dabei hinterließ, zu betrachten. Ein zweites Knirschen drang an sein Ohr. Ein leiseres, weit entfernt klingendes. Er schaute auf, in die Straße hinein. Sein Blick fiel auf einen kräftigen Mann, der ihm entgegenkam. Der Mann schien es nicht besonders eilig zu haben. Gemächlich stapfte er auf Ernest zu. Als er nur noch wenige Yards entfernt war, blickte er ihn verwundert an. Der Mann trug einen dunkelroten Mantel mit gräulichem Saum. Die Hosen schienen aus dem gleichen Stoff wie sein Mantel gefertigt, ebenfalls die Mütze, die er trug. Beides war mit dem gräulichen Saum eingefasst. Ein genauso schmutzig weißer Bommel hing an der Mütze, die so lang war, dass dieser auf seiner linken Schulter auflag. In der Hand hielt er eine altertümliche Laterne mit einer Kerze darin.
Er wirkte auf Ernest wie eine Mischung aus einem schmuddeligen Weihnachtsmann und einem der Nachtwächter, wie sie vor hunderten von Jahren wohl durch die Straßen von Darkmoor gelaufen waren. Ernest hatte den Mann noch nie zuvor hier gesehen. Er würde sich schämen, in derartig schäbigen Kleidern nach draußen zu gehen.
Inzwischen waren sie fast auf selber Höhe angekommen. Ernest nickte dem Mann ein wenig angewidert zur Begrüßung zu. Der Mann blieb stehen und funkelte ihn an. Ernest meinte ein bläuliches Leuchten in seinen Augen zu erkennen und stoppte ebenso. Langsam hob der Mann seine Laterne nach oben, sodass sie an seinem ausgestreckten Arm vor seinem Gesicht schwebte. Mit dem Zeigefinger der anderen Hand deutete er auf die Lampe. Ernest folgte seinem Zeig. Sein Blick fiel auf die Kerze darin. Was ist das? Es flammte ein bläuliches Licht auf, zuerst ganz schwach, kaum erkennbar, doch es wurde immer heller und heller. Eiseskälte kroch Ernest in sämtliche Glieder. Bald erleuchtete es die Straße. Dann erlosch es mit einem Mal. Doch nicht nur das Licht war verschwunden, auch der alte Nachtwächter war nicht mehr zu sehen. Zurück blieb nur der zu Eis erstarrte Ernest, der mit weit aufgerissenen Augen in die Leere starrte, während sich die Flocken auf ihn setzten.
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